„Was seufftzestŭ O Wandersman?“
Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die Wallfahrt zum Gnadenbild der „Schmerzhaften Mutter von Telgte“ neu geordnet und neu gestaltet. Das seit dem Mittelalter verehrte Gnadenbild in Telgte bekam eine eigene Kapelle. Zeitgleich wurde der von Münster nach Telgte führende Hauptwallfahrts- und Prozessionsweg aufwendig ausgebaut. Damit ist der kürzlich in einem Abschnitt auf der Telgter Heide als Denkmal bestätigte Prozessionsweg ein besonderes, überregional bedeutendes religionsgeschichtliches Zeugnis. Mit seinem Verlauf, seiner wegebaulichen Substanz, seiner Gestaltung als Allee und mit seinen Doppelbildstöcken erzählt der Prozessionsweg anschaulich und eindrucksvoll von einer über 300jährigen religiösen Praxis.
Entstehung der „Via Matris“
Der Prozessionsweg ist ein wesentlicher Bestandteil der gegenreformatorischen Neuinszenierung des Telgter Gnadenbildes – aus einer lokalen Marienverehrung wurde eine überregionale Wallfahrt. Wenige Jahre nach dem Ende des 30jährigen Krieges hatte Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen ab 1654 die Gnadenkapelle für das schon damals seit langer Zeit verehrte „uhralte miraculöse Telgtsche Vesperbild“ errichten lassen. Nur ein Jahr nach deren Weihe begann 1658 der bis 1663 abgeschlossene Ausbau des Weges zwischen Münster und Telgte zuem Prozessionsweg zum Thema der sieben schmerzhaften und der sieben glorreichen Mysterien Mariae. Eine solche „Via Matris“ ist das Gegenstück zu einem Kreuzweg, der die letzten Ereignisse im Leben von Jesus Christus thematisiert. Die Konzeption stammte von dem Jesuiten Johannes Blanckenfort, damals Rektor des Jesuitenkollegs Münster (Paulinum) und Domprediger. Der Prozessionsweg umfasste nicht nur die Stationen in Form von Doppelbildstöcken, sondern – und das ist eine Besonderheit – auch die Gestaltung des Weges selbst. Dafür ließ der fürstbischöfliche Chefingenieur Bernhard Spoede den Wegabschnitt in der Telgter Heide 1663 in schnurgeraden Abschnitten abstecken und durch 380 Leute aus umliegenden Orten als dammartigen Fußweg anlegen.
Konzeption durch Johannes Blanckenfort
"Andächtige Gebett/ Vnd Seelen Vbungen : Bey den Schmerzhafften vnd Glorwürdigen Stationen, So zwischen Münster/ vnd Telgt […] auffgerichtet/ Nützlich zugebrauchen“.
Münster 1660.
Der „fuss damm“
Diesen „fuss damm auf der Telgter Heyde“ charakterisieren bis heute drei Merkmale. Erstens fällt die geradlinige Wegeführung auf. Der Ingenieur Spoede ließ bewusst keinen kurvigen, sondern einen aus geradlinigen Abschnitten zusammengesetzten Weg abstecken. Dabei kickt der Wegverlauf zweimal in fast demselben, stumpfen Winkel nach Süden ab. Zweitens ist der Weg als Damm mit begleitenden Gräben angelegt. Schnurgerader Verlauf und dammartige Ausbildung zeigen die bemerkenswerte Übertragung der in der Garten- und Stadtbaukunst des Barock etablierten repräsentativen Kunstform der Allee auf die Bauaufgabe Prozessionsweg. Drittens besitzt der Weg, dem Charakter einer Allee entsprechend, begleitende Baumreihen. Die heute noch in großen Abschnitten beidseits an den Rändern des Weges vorhanden Linden ersetzten um 1895 eine erste Bepflanzung mit Fichten.
Die barocken Doppelbildstöcke
Auf dem Prozessionsweg stehen fünf barocke Wallfahrtsstationen. Sie sind allseitig mit Reliefs und Inschriften geschmückt, die den „andächtigen Wandersmann“ direkt ansprechen. Die Doppelbildstöcke wurden 1777/78 neu angefertigt, gehen aber auf die zwischen 1658 und 1663 aufgestellten Stationen zurück. Sie stehen bis heute nicht am Wegesrand, sondern unübersehbar mitten im Weg, versperren diesen fast. So begegnen dem Pilger auf dem durch Gebete an den Stationen strukturierten Weg von Münster nach Telgte unausweichlich die ‚Sieben Schmerzen Mariens‘ und – nach dem erlösenden Erlebnis des Gnadenbildes – auf dem Rückweg die ‚Sieben Freuden Mariens‘.
Bedeutung
Der Prozessionsweg ist ein besonderes religionsgeschichtliches Zeugnis. Er veranschaulicht, dass die Pilgerreise zu heiligen Orten wie dem Telgter Gnadenbild ein Wesensmerkmal auch der christlichen Religion ist. Darüber hinaus erzählt der Prozessionsweg eindrucksvoll von der Gegenreformation im Münsterland. Er bezeugt in seiner Substanz den Versuch der kirchlichen Obrigkeit, durch Gestaltung eine katholische Neuprägung der Religionsausübung in Telgte, Münster und im ganzen Bistum zu bewirken. Gestaltet und damit geordnet wurden mit dem Ausbau des Weges die Wallfahrtprozession von Münster zum Telgter Gnadenbild, aber auch die Wallfahrt des einzelnen Pilgers und damit die individuelle Religionsausübung. So macht der Prozessionsweg noch heute eine jahrhundertelange religiöse Praxis erlebbar.
Prozessionsweg an der Dritten Station, Blick in Richtung Münster
Dritte Station mit Inschrift: „Stehe in Mitten alhie / O Wandersman“
Vierte Station, Giebel mit Marienmonogramm und Caravaca-Kreuz