Der Verlust droht
Die 1960er- und 1970er-Jahre waren Boomjahre des Bauens. Getrieben vom wirtschaftlichen Aufschwung sowie vom Glauben an Wachstum wurde allerorten gebaut. Es war eine Zeit der Fortschrittseuphorie und des Aufbruchs, in der Architekten und Gartenarchitekten mit neuen Bauformen und neuen Materialien experimentierten. Innovative Raumkonzepte spiegelten die teils utopischen Vorstellungen vom Umbau der Gesellschaft.
Mittlerweile sind die einst stolzen, modernen Bauten in die Jahre gekommen. Mangelnder Unterhalt oder grundsätzliche Vorbehalte führen dazu, dass häufig über Rückbau und Abriss dieser Objekte diskutiert wird. Es droht der Verlust eines wichtigen Teils unseres baukulturellen Erbes. Innerhalb des großen Baubestands gibt es Bauten mit hohem Zeugniswert für die Baugeschichte und besonders für den gesellschaftlich-sozialen Wandel der Zeit. Diese Objekte müssen wir in den Städten und im ländlichen Raum finden und bewahren – bevor es zu spät ist.
Raumkonzepte und Grundrisse
Veränderte Vorstellungen, etwa vom Wohnen, Lernen oder Arbeiten, führten in den 1960er- und 1970er-Jahren, also der Zeit 1960 +, zu vielfältigen Raumkonzepten. Räume sollten unter anderem optimiert, verdichtet und flexibel sein und gleichzeitig den gesellschaftlichen Umbruch der Zeit mitgestalten. Im Wohnhausbau zum Beispiel verdichtete man Einfamilienhäuser zu Kettenhäusern in Teppichsiedlungen oder Wohnungen zu Terrassenhäusern und Wohnhügeln. Für Großzügigkeit sorgten fließende Grundrisse, mehrgeschossige Räume, über große Fensterflächen optisch einbezogene Atriumgärten oder uneinsehbare Balkone. Im Verwaltungsbau bildeten Großraumbüros das Ideal vom hierarchielosen Arbeiten ab. Häufig ausgehend von Sechs- oder Achtecken ließen sich die Grundrisse frei möblieren und an wechselnde Nutzungen anpassen. Sie sind insofern weit mehr als Zeugnisse einer künstlerischen Idee. Unregelmäßige, nicht rechteckige Grundrisse wiesen auch viele der Großstrukturen auf, zu denen man etwa Rathausbauten, Stadt hallen, öffentliche Bibliotheken, Volkshochschulen und später auch Geschäftspassagen im Sinne einer Verdichtung baulich zusammenfasste.
Material und Oberfläche
Mit der Architektur 1960+ verbinden viele vor allem den Baustoff Beton, der nun häufig als Sichtbeton in verschiedenen Oberflächenbehandlungen offen zutage trat: Rau und mit Schalungsspuren, gestockt mit körnigweicher Anmutung oder spiegelglatt geschalt und durch Zugaben eingefärbt oder zu Waschbetonplatten verarbeitet. Als Sammelbegriff für eine sich "brutal ehrlich" gebende Ästhetik wurde der "Brutalismus" von dem französischen Begriff für Sichtbeton béton brut abgeleitet. Unverputzter Kalksandstein oder ungegliederte Backsteinflächen als Füllung demonstrativ sichtbar gelassener Tragstrukturen sind andere Spielarten dieser stark durch ihre Materialität geprägten Architektur. Materialkontraste über Holzverschalungen, Metallfassaden, Kunst- und Naturschiefer-Verschindelungen sowie Spaltklinker gehören ebenso dazu. Gleichzeitig erlebte die in den 1950er-Jahren eingeführte Vorhangfassade eine rasante Entwicklung und Verbreitung. Zur Belebung der strengen Glas-Raster-Fassaden erhielten besonders in den 1960er-Jahren Großbauten vor- und zurückspringende Fassadenelemente wie filigrane Gittergeflechte oder umlaufende Galerien.
Von der zeitgenössischen Begeisterung für den technischen Fortschritt zeugen zahllose Experimente mit neuen Materialien – von glasfaserverstärktem Polyestergewebe, über Acryl bis hin zu Luftkissen. Sie ermöglichten neue Formen, bilden aber bei heutigen Sanierungen häufig eine – in der Regel lösbare – Herausforderung.
Kunst und Architektur
In der Zeit 1960+ investierten viele Bauherren in die Ausstattung ihrer Neubauten vor allem mit zeitgenössischer Kunst. Aufträge insbesondere von den Kirchen und der öffentlichen Hand trugen zum Lebensunterhalt junger aufstrebender Künstler bei, die später teils deutschland- oder sogar weltweite Bedeutung erlangten. Daher bildet heute die „Kunst am Bau” eine der wichtigsten, wertvollsten und großteils frei zugänglichen Sammlungen von Kunst dieser Zeit in Deutschland.
In vielen Fällen allerdings fristet die Kunst am Bau ein Schattendasein oder wird gänzlich übersehen. Denn nicht immer ist sie in der Zeit 1960+ in gewohnter Weise als Kunstwerk erkennbar. Vielmehr wurde sie häufig Teil der Architektur oder Freiraumgestaltung. Wenn etwa Künstler Wände eines Gebäudes als Betonrelief ausarbeiteten oder Hohlspiegelwände gestalteten, die gleichzeitig als Raumteiler fungierten. Geometrische Farbkompositionen wurden auch direkt auf Wände aufgetragen oder Künstler wählten selbst im kirchlichen Bereich "unedle" Materialien wie Beton oder Kunststoff. Im Sinne eines Gesamtkunstwerks übernahmen die Architekten in einigen Fällen selbst die künstlerische Gestaltung. Es gilt, die Kunst am Bau wertzuschätzen und mit der zugehörigen Architektur zu erhalten
Fertigteile und Bausysteme
Bereits Architekten der 1920er- und 1930er-Jahre begeisterten sich für die "industrielle" Produktion von Bauten, die durch Vorfertigung, Standardisierung und Rationalisierung erreicht werden sollte. Zunächst fanden solche Prinzipien vor allem Anwendung im Industriebau, wo im Zweiten Weltkrieg etwa ganze Baukomplexe aus Betonfertigteilen entstanden. Mit dem wachsenden Bauvolumen der Zeit 1960+ gerieten diese Prinzipien aber auch für andere Bauaufgaben in den Blick.
Architekten entwickelten Bausysteme aus Stahlbetonfertigteilen für ganze Hochschulstandorte und für den Einfamilienhausbau. Vorhangfassaden, die sich aus der Aneinanderreihung wiederkehrender Standard- Fassadenelemente ergaben, prägten die Ansichten von Hochhäusern und anderen Großbauten. Noch mehr: Die Ideen serieller industrieller Bauproduktion waren so dominant, dass viele Architekten etwa mit Balkonbrüstungen aus Betonfertigteilen ihre konventioneller richteten Bauten optisch an die Fertigteil-Bausysteme annäherten.
Elementbauweisen und serielle Optik sind daher heute wichtige Zeugnisse zeitgenössischer Architektur und Bautechnik. Bausysteme aus großflächigen Stahlbetonfertigteilen erlebten aber in den meisten Aufgabengebieten nur eine kurze Blütezeit. Abgesehen von wachsender Kritik am Erscheinungsbild waren Einsparungen, wenn überhaupt, nur bei sehr großen Komplexen mit vielen ähnlichen Bauten gegeben.
Größe und Maßstab
Mit der Architektur 1960+ verbinden die meisten "Klötze", also städtische Großbauten mit aufwändig gestalteten Freiräumen, die zuvor übliche Maßstäbe sprengten. Rathauskomplexe, Wohnanlagen oder Hochschulen entstanden, wenn sie nicht auf der "grünen Wiese" errichtet wurden, häufig auch auf Kosten gewachsener Strukturen.
Heute legen sie Zeugnis ab vom Fortschrittsoptimismus und dokumentieren Vorstellungen vom ungebremsten Wachstum. Größe und Verdichtung der Neubauten zeigen, wie unter dem Schlagwort "Urbanität durch Dichte" städtische Anmutung entstehen sollte. Viele dieser Bauten sind städtebaulich prägend, obwohl sie häufig nur erste Elemente geplanter umfassenderer Stadtumbauten waren. Die Ölkrisen der 1970er-Jahre und das wachsende Bewusstsein für historische Strukturen beendeten viele der auf Wachstumsutopien gründenden Planungen.
Die Architektur 1960+ prägen aber nicht nur Großstrukturen. Es entstand eine weitaus größere Zahl kleinerer und weniger präsenter Bauten. Zu entdecken sind etwa Wohnhäuser, bei denen man mit neuen Bauformen, Grundrissen und Materialien experimentierte. Gleichzeitig zeigen sie, wie sich Vorstellungen vom Leben und Wohnen in verschiedenen sozialen Schichten veränderten. Weniger präsent sind etwa auch Maßstabsveränderungen bei landwirtschaftlichen Neubauten, die neue Vorstellungen industrieller Betriebsführung in diesem Sektor spiegeln.
Farbe und Form
Neben strengen Kuben ("Kisten") prägen geometrische oder gänzlich unregelmäßige Formen die Architektur 1960+. Motive wie die beliebte Wabe oder Elemente wie die gerundete Ecke ziehen sich häufig durch die Gesamtkonzeption – von der Architektur, über die Ausstattung bis zur Freiraumgestaltung. Andere Bauten inszenieren demonstrativ die Gebäudetechnik als Gestaltungselement ("High-Tech-Architektur"). Neue Architekturformen ergaben sich auch aus Experimenten mit Konstruktionen: Zeltarchitektur mit leichten Flächentragwerken für Stadien, Hängekonstruktionen für Verwaltungshochhäuser, dynamisch gekrümmte Holz- oder Betonschalen als Dachkonstruktion für Kultur- und Gastronomiebauten.
Zeittypisch sind neben den Grautönen des Sichtbetons metallische Hightech-Fassaden und gläserne Vorhangfassaden mit anthrazitfarbenem Glas oder gold-bronzefarbenem Reflexionsglas, das an Edelmetalle erinnern sollte. Der Farbrausch des Pop-Zeitalters brachte vor allem in den 1970er-Jahren eine neue Farbigkeit. Orange, gelbe oder apfelgrüne Akzente etwa an Fensterrahmen, Wänden, Lampen oder Handläufen dienten oft nicht nur der Gestaltung, sondern auch der Orientierung.
Zustand und Reparatur
Bauten und Freiräumen der Zeit 1960+ wird häufig unterstellt, sie stünden heute am Ende ihrer Lebenszeit. Oder sie seien aufgrund von Materialien wie Beton oder Kunststoff prinzipiell nicht reparaturfähig und nicht an neue Anforderungen anpassbar. Bauten, deren Sanierung Experten der LWL-Denkmalpflege in den letzten Jahren begleitet haben, zeigen das Gegenteil: Die meisten Objekte sind durchaus reparaturfähig und auch umnutzbar. Für viele Probleme mit den neuen Werkstoffen wurden bereits Lösungen entwickelt, die allerdings noch nicht allgemein bekannt sind (z. B. Sanierung von Oberflächen in Sichtbeton).
Die Erfahrungen zeigen außerdem, dass es nicht allein unlösbar scheinende technische Probleme sind, die zu fehlender Akzeptanz der Bauten führen. Vielmehr tragen in vielen Fällen ebenso die Zeichen mangelnden Bauunterhalts dazu bei. Wenn etwa Verschmutzungen beseitigt, Undichtigkeiten behoben, die Haustechnik erneuert und vielleicht sogar noch die Grünanlagen gepflegt werden, treten die Qualitäten wieder stärker hervor. Dann fällt der Blick auch wieder auf die Details dieser Bauten, die die Entwürfe prägen und die die zeitgenössischen Bauherren und Nutzer begeistert haben.
Arbeitsheft
Denkmalpflege und die Moderne 1960+
7. Westfälischer Tag für Denkmalpflege 19.–20. Mai 2016 in Marl
17. Arbeitsheft. Münster 2017 | 128 Seiten, 160 Abb. ISBN 978-3-944327-51-8 | 12,50 €.
Anhand ausgewählter Beispiele bietet das Arbeitsheft Einblicke in Maßnahmen zur Erfassung und Bewahrung denkmalwerter Substanz der Moderne 1960 + in Westfalen. Die Tagungsbeiträge thematisieren ein breites Spektrum von Bautypen, die von Bildungsbauten, Sakralbauten, Industrieanlagen und Planungskonzepten der Freiraumgestaltung bis zu innovativen Lösungen im Wohnungs- und Verwaltungsbau reichen.
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Zum Nachlesen
Eine detaillierte Publikation zu den Projektergebnissen ist derzeit in Vorbereitung.
Bourrée, Manfred und Christian Richters: Das Ruhrgebiet. Architektur nach 1945. Essen 1996.
Braum, Michael und Christian Welzbacher (Hg.): Nachkriegsmoderne in Deutschland. Eine Epoche weiterdenken. Basel/Boston/Berlin 2009.
Bund Heimat und Umwelt in Deutschland (Hg.): Klötze und Plätze. Wege zu einem neuen Bewusstsein für Großbauten der 1960er und 1970er Jahre. Bonn 2012.
Buttlar, Adrian von und Christoph Heuter (Hg.): denkmal!moderne. Architektur der 60er Jahre. Wiederentdeckung einer Epoche. Berlin 2007.
Deutsches Nationalkomitee für Denkmalschutz (Hg.): 1960 plus – ein ausgeschlagenes Erbe? Dokumentation der Tagung des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz am 17./18. April 2007 in Berlin. Bonn 2007 (Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, 73).
Durth Werner: Deutsche Architekten. Biographische Verflechtungen 1900–1970. Braunschweig/ Wiesbaden 1986 (= Schriften des Deutschen Architekturmuseums zur Architekturgeschichte und Architekturtheorie).
Eckardt, Franz et al. (Hg.): Welche Denkmale welcher Moderne? Zum Umgang mit Bauten der 1960er und 70er Jahre. Berlin 2017.
Elser, Oliver, Philip Kurz und Peter Cachola Schmal (Hg.): SOS Brutalismus. Eine internationale Bestandsaufnahme. Zürich 2017.
Flagge, Ingeborg (Hg.): 40 Jahre Nordrhein-Westfalen. Bauen und Stadtentwicklung von der Nachkriegszeit bis heute. Bearbeitet im Auftrag des Ministers für Stadtentwicklung, Wohnen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen. Stuttgart 1987 (= Architektur in der Demokratie, 4).
Hassler, Uta und Ayot d’Dumont (Hg.): Bauten der Boomjahre. Paradoxien der Erhaltung. Zürich 2010.
Hecker, Michael und Ulrich Krings (Hg.): Bauten und Anlagen der 1960er und 1970er Jahre – ein ungeliebtes Erbe? Zweitägiges Symposium des hdak am 23. Und 24. Oktober 2009 in Köln. Köln 2011 (= Edition hdak Haus der Architektur, 4).
Hnilica, Sonja: Der Glaube an das Große in der Architektur der Moderne. Großstrukturen der 1960er und 1970er Jahre. Zürich 2018.
Hnilica, Sonja, Markus Jager und Wolfgang Sonne (Hg.): Auf den zweiten Blick. Architektur der Nachkriegszeit in Nordrhein-Westfalen. Bielefeld 2010.
Jaeger, Falk: Bauen in Deutschland. Ein Führer durch die Architektur des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik und in West-Berlin. Stuttgart 1985.
Lange, Ralf: Architektur und Städtebau der sechziger Jahre. Planen und Bauen in der Bundesrepublik und der DDR von 1960 bis 1975. Hg. vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz. Bonn 2003 (= Schriftenreihe des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz, 65).
Langenberg, Silke: Bauten der Boomjahre. Architektonische Konzepte und Planungstheorien der 60er und 70er Jahre. 2., leicht veränd. Auflage. Dortmund 2011.
Meier, Hans-Rudolf (Hg.): *Kopf*Was bleibt? Wertung und Bewertung der Architektur der 1960er bis 1980er Jahre. Stuttgart 2015 (= Forum Stadt, 42.1).
Museum für Architektur und Ingenieurkunst NRW (Hg.): Nordrhein-Westfalen. 60 Jahre Architektur und Ingenieurkunst. Essen 2007.
Pehnt, Wolfgang: Deutsche Architektur seit 1900. 2. Aufl. München 2006.
Philipp, Klaus Jan (Hg.): *Kopf*Vom Wirtschaftsboom zur Wachstumsgrenze. *RumpBauten der 1960er Jahre. Stuttgart 2013 (= Forum Stadt, 40.4).
Philipp, Klaus Jan (Hg.): *Kopf*Vom Wirtschaftsboom zur Wachstumsgrenze. *RumpBauten der 1970er Jahre. Stuttgart 2014 (= Forum Stadt, 41.2).
Vereinigung der Landesdenkmalpfleger in der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Zwischen Scheibe und Wabe. Verwaltungsbauten der Sechzigerjahre als Denkmale. Wiesbaden 2012 (= Berichte zur Forschung und Praxis der Denkmalpflege in Deutschland, 19).
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